ISSN:
1433-8491
Source:
Springer Online Journal Archives 1860-2000
Topics:
Medicine
Notes:
Zusammenfassung Wenn Umweltfaktoren allein eine dominierende Rolle beim Zustandekommen von Neurosen spielen würden, so wäre in Krisenzeiten ein steiles Emporschnellen der Neurosenziffer zu erwarten. Statistisch verwertbares Material zur Überprüfung dieser Frage bilden die Rentengutachten unserer Klinik, bei denen seit dem ersten Weltkrieg unter gleichbleibenden Gesichtspunkten sorgfältig nach Neurosesymptomen geforscht wurde. Ein anderes ähnlich diagnostisch gesichertes Material dürfte kaum zur Verfügung stehen. Die Gesamtkrankengeschichten einer Nervenklinik eignen sich zur Bearbeitung der Fragestellung nicht, da der Zustrom neurotischer Störungen namentlich in jüngerer Zeit vielfach von äußeren Faktoren abhängig ist, wie beispielsweise Intensivierung der psychotherapeutischen Arbeit und Einrichtung von psychotherapeutischen Abteilungen. Durchgesehen wurden die Rentengutachten der Zeiträume 1919–1924 (447 Fälle), 1935–1939 (1410 Fälle) und 1945–1949 (719 Fälle), insgesamt 2576 Gutachten. Die genannten Zeitabschnitte zeichnen sich durch sehr unterschiedliche äußere Verhältnisse aus, die Jahre 1945 bis 1949 stellen den Tiefpunkt schlechthin dar. Der Anteil neurotischer Störungen belief sich in allen drei Zeitabschnitten auf rund 30 %! 1919–1924: 30,0%; 1935–1939: 31,6%; 1945–1949: 27,6 %1. Darüber hinaus fanden sich bei den Begutachteten dieser Zeiträume noch weitere Übereinstimmungen: Das Verhältnis der Anfälligkeit für die Neurose bei Männern und Frauen erfuhr keine Verschiebung. Der sogenannte Kriegsneurotiker-prozentsatz betrug nach den beiden Weltkriegen ebenfalls 30% (30,5 und 30,4%). Nach Schädel- und Wirbelsäulentraumen, rheumatischen Erkrankungen traten mehr neurotische Störungen auf als nach anderen zur Untersuchung gelangten Körperschäden. Commotionen zeigen einen höheren Neuroseprozentsatz als Hirnverletzungen, ebenso Beinverletzungen gegenüber Armverletzungen. Die Verunfallten der Invalidenver-sicherten wiesen eine besonders starke Tendenz zur Neurosebildung auf. Die Zahl neurotischer Störungen bei K.B.-Begutachtungen nahm um so mehr zu, je weiter das Kriegsende zurücklag. Diese Konstanz des Neuroseanteils und bestimmter Neurosedispositionen sowie der Geschlechtsverteilung während drei Zeitabschnitten, in denen die Umweltbedingungen größte Verschiedenheiten aufwiesen -gemessen an dem bearbeiteten Material — berechtigen zu dem Schluß, daß solche Umweltfaktoren wie materielle Notlage, Mangel an den primitivsten Lebensgütern, Verlust der Existenzgrundlage, Flüchtlingselend, Entwurzelung, Um- und Abwertung ideeller Normen und daraus resultierende Angst und Unsicherheit keine entscheidende Bedeutung an dem Zustandekommen von Neurosen zugemessen werden kann. Die gefundenen Zahlen besagen vielmehr, daß, ganz gleich wie die Umweltbedingungen gestaltet sind, ein bestimmter Bevölkerungsanteil neurotische Symptome produziert. Dieser Anteil dürfte bei dem augenblicklichen körperlichen und seelischen Entwicklungszustand unserer Bevölkerung stets zu erwarten sein. Ob die Zahl von 30% neurotischer Störungen die wirkliche ist, kann mit Bestimmtheit bei der Art des ausgewerteten Materials nicht behauptet werden. Ausschlaggebend aber ist die Konstanz des Anteils neurotischer Störungen bei einem sorgfältig durch untersuchten Krankengut, das einen Sektor der Gesamtbevölkerung darstellt. Wenn unabhängig von den Umweltverhältnissen eine bestimmte Anzahl von Menschen neurotisch entgleist, so kommen wir nicht umhin, bei der Neuroseentstehung endogene psychische Faktoren anzunehmen, Faktoren, die in der Einzelpersönlichkeit selbst zu suchen sind. Die statistisch gewonnenen Ergebnisse bestätigen aufs neue die Erkenntnis, daß die wesentlichen Kausalfaktoren für das Zustandekommen der Neurosen im Individuum selbst liegen, in den Besonderheiten des Aufbaues der Persönlichkeit und der Besonderheit psychischer Komponenten auf Umwelteinflüsse zu reagieren. Neuroseerzeugend wirken in erster Linie endogen-psychische Faktoren einer besonderen Persönlichkeitsstruktur. Von dieser Betrachtung sind ausgenommen: Akute Syndrome bei Krieg und Katastrophen sowie chronisch wirkende soziologische Faktoren. Verschiedenheiten allein zeigte die Neurosesymptomatik während der bearbeiteten Zeitabschnitte. Die Zahl neurotischer Bilder ohne vorausgegangenen organischen Körperschaden war nach dem ersten Weltkrieg im Gesamtmaterial etwa um die Hälfte höher als nach dem zweiten. Deutlicher zum Ausdruck kommt dieser Unterschied bei den K.B.-Begutachtungen. Der Anteil der Neurosen ohne Organschaden betrug 1919 bis 1924 13, 7%, 1945–1949 1,9%. Eine eindeutige Abnahme in unserem Material erfuhren psychogene Tremoren und Anfälle, in geringerem Umfange psychogene Sprachstörungen und- Angstzustände. Die besonderen Milieueinflüsse schwerer Krisenzeiten entfalten, wie die vorgelegte Statistik zeigt, keine spezifische Wirkung auf das Zustandekommen von Rentenneurosen. Übergroße Not bindet eher die seelischen Kräfte, die zur Aufrechterhaltung einer Neurose erforderlich sind.
Type of Medium:
Electronic Resource
URL:
http://dx.doi.org/10.1007/BF00346200
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