FormalPara Leserbrief zu

Berthele A, Hemmer B (2021) S2k-Leitlinie: Diagnose und Therapie der multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen. Zusammenfassung der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. DGNeurologie. https://doi.org/10.1007/s42451-021-00334-6

Die multiple Sklerose (MS) ist eine komplexe, autoimmun vermittelte Erkrankung des zentralen Nervensystems, charakterisiert durch entzündliche Demyelinisierung sowie axonalen/neuronalen Schaden. Die Zulassung verschiedener verlaufsmodifizierender Therapien sowie auch das in den vergangenen Jahren enorm gewachsene Krankheitsverständnis veränderten Verlauf und Prognose der Erkrankung wesentlich. Unter diesem Aspekt ist die Aktualisierung der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN; S2k-Leitlinie) einerseits eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Andererseits führte aber bereits die im August 2020 veröffentlichte Konsultationsfassung zu erheblichen Diskussionen, z. T. auch mit Vermittlung der DGN. Daher ist aus Sicht dieser Autorengruppe (Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe, MSTKG) eine Positionierung, insbesondere im Hinblick auf einige wenige, aber wesentliche Kritikpunkte, notwendig. Daher verweisen wir gleichzeitig auch auf ein MSTKG-Positionspapier mit wesentlichen Empfehlungen zur verlaufsmodifizierenden Therapie der MS als Ergebnis einer Zusammenarbeit von Mitgliedern des Kompetenznetzwerks Multiple Sklerose (KKNMS; einschließlich Vorstandsmitgliedern), Mitgliedern des Bund Deutscher Neurologen (BDN), Mitgliedern der DGN sowie Vertretern aus Österreich und der Schweiz, dessen Ziel es ist, das Wissen zur MS, zu ihrem Verlauf und insbesondere ihrer therapeutischen Beeinflussung auf dem Stand des Jahres 2021 für die Anwendung im deutschsprachigen Raum auf Basis verfügbarer wissenschaftlicher Evidenzen bestmöglich zu bündeln (OpenScienceFramework, Vorabdruck, https://osf.io/j7z8s/).

Die Leitlinie (LL) der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zur Diagnose und verlaufsmodifizierenden Therapie der multiplen Sklerose (MS) mit verwendeter Methodologie in AWMF-Konformität (S2k-Status) erbringt viele Empfehlungen, die unstrittig richtig und hilfreich sind. Der Kommentar fokussiert von daher ausschließlich auf die wenigen kritischen Aspekte und warum sie aus Sicht der Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG) einer Kommentierung bedürfen bzw. eine alternative Empfehlungssituation notwendig machen.

Aus Sicht der MSTKG sind die wesentlichen Kritikpunkte an der neuen Leitlinie (und Unterschiede zum Positionspapier der MSTKG) wie folgt:

  • Ein explizites Ziel der MS-Therapie ist die „bestmögliche Krankheitskontrolle“ unter Einbeziehung der „bestmöglichen Lebensqualität“ des Patienten, mit der Option auch hocheffektive Therapeutika als Reaktion auf Krankheitsaktivität früh bzw. frühestmöglich einzusetzen. Generell kann die Wahl der verlaufsmodifizierenden Therapie auf Basis der Einschätzung von Krankheitsaktivität, Krankheitsschwere und – damit zusammenhängenden – prognostischen Kategorien getroffen werden. Konkret fußt die Entscheidung auf der Situation des individuellen Patienten unter Einbeziehung der Situations- und Prognoseanalyse, die u. a. Krankheitsaktivität, Krankheitsschwere, die Abwägung von Therapiesicherheit und -risiko, das Alter, das Geschlecht und die Lebenssituation des Patienten einbezieht.

  • Die neue DGN-LL versucht, eine deutsche Operationalisierung von „Aktivitätsdefinitionen“, die u. E. auf problematische Weise Vorgaben macht, die nicht belegt sind, jedoch therapeutische Maßnahmen erheblich einschränken sowie bereits etablierte deutsche/europäische/internationale Konsensusempfehlungen zurücknehmen. Letztlich bedeutet dies in konkreter Auslegung, dass eine höheraktive Therapie erst gegeben werden sollte, wenn der Patient bereits eine Behinderung hat bzw. man den Patienten ≥ 2 Jahre beobachtet hat. Aus Sicht der MSTKG, sowie gestützt durch mehrere große Beobachtungs- und Registerstudien, ist es ein wesentliches Ziel der modernen MS-Therapie, die Akkumulation von Behinderung und damit mögliche Neurodegeneration nicht zuzulassen. Zudem können es Phasen der Krankheitsaktivität erfordern, rascher eine Entscheidung herbeizuführen, d. h. nicht 2 Jahre zu warten, bevor eine Therapieoptimierung eingeleitet wird.

  • Aus Empfehlungssicht der MSTKG kann die MS als mild/moderat bzw. aktiv oder hochaktiv bewertet werden (Abb. 1). Entscheidend für die Einschätzung sind

    1. I.

      die Schubfrequenz,

    2. II.

      der Magnetresonanztomographie(MRT)-Befund (Läsionslast, Läsionslokalisation) und

    3. III.

      die Rückbildung der/s Schübe/Schubes, die Erkrankungsaktivität sowie die Erkrankungsschwere (gemessen an klinischen sowie radiologischen Parametern); zusätzlich sind das Alter des Patienten und seine Komorbiditäten in Betracht zu ziehen.

  • Die Bestimmung der Aktivität erfolgt anhand klinischer Schübe (Schweregrad der klinischen Symptomatik/Dauer/Rückbildungstendenz) und/oder MRT-Aktivität (kontrastmittelaufnehmende Läsionen; neue oder eindeutig vergrößerte T2-Läsionen). Die Bestimmung der Progression erfolgt mit Hilfe mindestens jährlicher Untersuchungen mit sorgfältiger klinischer Beurteilung. Als standardisierte Instrumente zur Beurteilung klinischer Funktionen bei Patienten mit MS sind neben dem EDSS beispielsweise der „multiple sclerosis functional composite“ (MSFC), das „brief international cognitive assessment for MS“ (BICAMS) oder 6‑ bzw. 2‑min-Gehtests etabliert. Grundsätzlich sind die Einordnungen nicht kategorisch oder statisch und bedürfen der Überprüfung bzw. engmaschiger Verlaufskontrollen.

  • Die Empfehlung zur Immuntherapie bei klinisch isoliertem Syndrom (KIS), welches aufgrund der neuen diagnostischen Kriterien zunehmend seltener diagnostiziert wird, ist bei der DGN-LL sehr zurückhaltend und nicht immer leicht nachvollziehbar formuliert. Für die Optikusneuritis als relativ häufige Erstmanifestation einer MS wird die Therapie eher als Ausnahme propagiert. Die MSTKG positioniert sich klar proaktiv zu einer Therapie, sieht das KIS mit den neuen McDonald-Kriterien immer häufiger als MS und gibt definitorische Hilfe für den Sonderfall der Optikusneuritis gemäß neuen McDonald-Kriterien (da es sich auch hier immer häufiger um eine zu therapierende McDonald-definitive MS handelt).

  • Die Auswahl der optimalen verlaufsmodifizierenden Therapie auf Basis der aktuellen Kenntnis des jeweiligen Wirkmechanismus verläuft heute bei der (hoch-)aktiven MS nach 2 hauptsächlichen Vorgehensweisen. Sie beruhen auf der Evaluation des Risikos des weiteren MS-Verlaufs und von Risiken vs. Wirksamkeit verlaufsmodifizierender Therapien.

    • Die erste Variante ist ein sog. Eskalationsansatz. Hier wird mit niedrigpotenteren Medikamenten mit einem bekannten und relativ sicheren Risikoprofil begonnen. Bei Nachweis von Erkrankungsaktivität trotz hinreichend langer und regelmäßiger Anwendung wird eine Eskalation zu potenteren Medikamenten durchgeführt.

    • Die alternative Vorgehensweise ist die Therapieinitiierung bereits mit einer Medikation höherer Wirkeffizienz, z. B. Alemtuzumab, Cladribin, Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab oder Sphingosin-1-Phosphat(S1P)-Modulatoren (zugelassen Fingolimod, Ozanimod, Ponesimod), ggf. auch schon zum Zeitpunkt der Diagnose.

  • Die DGN-LL erwähnt zwar die beiden Ansätze, präferiert aber recht eindeutig den Eskalationsansatz. Dies ist aus Sicht der heutigen Datenlage und der europäischen/internationalen Empfehlungen so nicht ausreichend und limitiert die Möglichkeiten, auch mit einer Medikation höherer Wirkeffizienz zu beginnen.

  • Die LL versucht eine Graduierung von krankheitsmodifizierenden Therapien nach Wirkstärke und nimmt damit erstmals eine Dreiteilung vor. Das ist aus Sicht der MSTKG wissenschaftlich nicht fundiert, da Unterschiede der Schubreduktion von nur wenigen Prozent zwischen den genannten Medikamenten wegen verschiedener Studienkollektive nicht formal verglichen werden dürfen. Aus diesem „unwissenschaftlichen Ansatz“ folgt problematischer Weise dann letztlich auch eine „Dreiteilung“ des Therapiealgorithmus – bestehend aus einer erst niedrig-, dann mittel- und zuletzt hochpotenten Therapie. Dieses schrittweise „Auftitrieren“, welches im Kern als Präferenzvorgehen beschrieben wird, entspricht nicht den etablierten Konsensusempfehlungen, den neuen Erkenntnissen und europäischen/internationalen Therapiekonzepten, nach denen nicht nur der Zeitpunkt der Therapie (frühestmöglich) sondern auch deren Wirkstärke das langfristige Outcome beeinflusst.

  • Die Vorgabe einer Dreiteilung mit Zuordnung bestimmter Medikamente in jeweils Gruppe 1, 2, 3 stimmt in Teilen nicht mit den Zulassungstexten dieser Medikamente überein und schränkt damit letztlich die inzwischen proaktiveren Therapiekonzepte und die Therapiefreiheit ein. Wenngleich die LL immer versucht, andere Wege zu erlauben, gibt es ohne Evidenz den Zwang einer Begründungsumkehr.

  • Die DGN-LL erwähnt zwar, dass es kontinuierliche vs. gepulste Therapieansätze gibt, legt sich aber recht eindeutig und in klarer Präferenz für den kontinuierlichen Therapieansatz fest. Unter anderem wird dies mit dem Hinweis auf fehlende Langzeitdaten gepulster Therapien begründet, der aber so nicht haltbar ist. Letztlich muss daher eine Aufklärung über beide Therapiekonzepte erfolgen, zumal man den Patienten über die Möglichkeit einer Erkrankungsstabilisierung ohne kontinuierliche Therapie (therapiefreie Remission) informieren muss.

  • Ein weiteres Problem der DGN-LL ist zudem der Versuch, für sehr konkrete Situationen sehr konkrete Handlungsanweisungen zu geben. Aus Sicht der MSTKG ist ein weiterhin abwägendes, auf die Person und die individuelle Person maßgeschneidertes Vorgehen anstelle von kategorischen, rigiden Empfehlungen notwendig und sinnvoll. Zum Beispiel gibt es eine Vorschrift zum Gebrauch von Natalizumab in spezifischen klinischen Situationen (Beispiel positiver JCV-Antikörper-Status). Die Therapie mit Natalizumab auch bei JCV-Antikörperstatus ≥ 0,9 ist jedoch prinzipiell möglich und sogar je nach individueller Voraussetzung in bestimmten Situationen unter Monitorauflagen notwendig, zumal sich das Progressive Multifokale Leukoenzephalopathie(PML)-Risiko in den ersten 18 Monaten nicht von einer JCV-Antikörper-negativen Person unterscheidet.

  • Die DGN-LL positioniert sich sehr exponiert zum Absetzen einer verlaufsmodifizierenden Therapie und empfiehlt diese Möglichkeit nach 5 Jahren dezidiert. Aus Sicht der MSTKG ist dies auf Basis der vorliegenden Daten so nicht möglich und sogar für den Patienten nicht ungefährlich. Das Absetzen oder Pausieren einer Therapie bei explizitem Patientenwunsch (ohne eine geplante Folgetherapie) kann unter klaren Maßgaben für ein klinisches wie bildgebendes Monitoring erfolgen, ist aber damit keinesfalls der Regelfall. Entsprechende Absetzstudien wurden gerade erst international initiiert. Hingegen gibt es klare epidemiologische Daten für eine jederzeit mögliche sog. Reaktivierung im Sinne eines Fortschreitens der Krankheit sowie Daten für Reaktivierung oder Rebound nach Absetzen von immunmodulatorischen Medikamenten. Zudem kann nach Absetzen von Natalizumab oder S1P-Modulatoren verstärkte Krankheitsaktivität (Rebound) auftreten. In dieser Kritiklinie balanciert die DGN-LL die Medikamentensicherheit für den Patienten aus Sicht der MSTKG höher als die modernen Möglichkeiten für langfristige Erkrankungsstabilisierung.

  • In der DGN-LL wird das für die MS nicht zugelassene Rituximab den anderen Präparaten zur B‑Zell-Therapie (Ocrelizumab, Ofatumumab) gleichgestellt, obwohl Evidenzklasse-I-Studienergebnisse hierzu nicht existieren. Zwar ist eine ähnliche Wirksamkeit möglich, ist aber „off-label“ und führt damit zu Problemen bei der Verordnung.

  • Die MSTKG verbleibt im Gegensatz zur DGN-LL bei den mit Zulassungstexten und im Konsensus von KKNMS und DMSG verabschiedeten Empfehlungen der KKNMS Qualitätshandbücher.

Abb. 1
figure 1

Verlaufsmodifizierende Therapien der MS. 1Azathioprin ist formal zugelassen, allerdings nur noch in den seltensten Fällen angewendet (2. Wahl); 2Mitoxantron hier – sowie bei hochaktiver RRMS – formal ebenfalls zugelassen, allerdings nur noch in den seltensten Fällen, aufgrund des ungünstigen Nebenwirkungsprofils und der kumulativen Höchstdosis, angewendet (2. Wahl); 3Natalizumab: sowohl i.v. als auch s.c.; insbesondere bei HPyV-2(JCV)-Antikörper-Positivität (HPyV-2[JCV]-AK ≥ 0,9 HPyV-2[JCV]-Antikörpertiter) ist aufgrund des PML-Risikos unbedingt die Risikostratifizierung zu beachten! Hohes Risiko für PML bei (i) vorheriger Immunsuppression, (ii) ≥ 18 Monate kontinuierliche Therapie, (iii) positiver HPyV-2(JCV)-Antikörperstatus; 4Interferone: Interferon-b-1a i.m., Interferon-b-1a s.c., Interferon-b-1b s.c., pegyliertes Interferon-b-1a s.c./i.m.; 5Mit Glatiramerazetat sind auch gleichzeitig Glatirameroide gemeint. 6Die Entscheidung zur Art der Therapie (sowie zum Therapiekonzept) leitet sich von der Einschätzung der Erkrankungsaktivität sowie -schwere ab und beinhaltet damit Erst- oder Zweitlinientherapien. Listung der verfügbaren Medikamente alphabetisch, nicht nach Wirkstärke oder Präferenz. (Schema aktualisiert auf Basis KKNMS-Schema, Aktuelle Neurologie 2014). KIS klinisch isoliertes Syndrom, MRT Magnetresonanztomographie, MS Multiple Sklerose, PMS progrediente MS, PPMS primär progrediente MS, RMS relapsierende MS, RRMS schubförmig-remittierende MS (engl.: relapsing-remitting MS), SPMS sekundär progrediente MS, S1P Sphingosin-1-Phosphat