Einleitung

Personen mit Migrationshintergrund (PmM) stellen mit einer Anzahl von 19,3 Mio. Menschen und einem Anteil von 23,6 % an der Gesamtbevölkerung eine große und in den letzten Jahren wachsende Bevölkerungsgruppe in Deutschland dar [1]. So ist etwa innerhalb der letzten 10 Jahre ein Zuwachs von fast 5 Mio. Personen zu verzeichnen [2]. Für das Gesundheitssystem ergeben sich Herausforderungen durch diese wachsende Bevölkerungsgruppe aufgrund von Unterschieden in der Mortalität [3,4,5], Morbidität [6] und einem unterschiedlichen Bedarf und Inanspruchnahmeverhalten medizinischer Dienstleistungen zwischen PmM und Personen ohne Migrationshintergrund (PoM; [7,8,9]).

Die größten Migrantengruppen in Deutschland sind türkeistämmige Personen und (Spät‑)Aussiedler. Als (Spät‑)Aussiedler bezeichnet man Zuwanderer deutscher Abstammung, die aus einem Staat des Ostblocks bzw. des ehemaligen Ostblocks in die Bundesrepublik Deutschland kamen, um dort ansässig zu werden. Bis Ende der 1980er-Jahre kamen Aussiedler vor allem aus Polen und Rumänien, seit 1990 meist aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Als Spätaussiedler werden Menschen bezeichnet, die ab dem 01.01.1993 nach Deutschland übergesiedelt sind [10]. Im Folgenden betrachten wir Aussiedler und Spätaussiedler aus der früheren Sowjetunion und bezeichnen sie in diesem Artikel als „Aussiedler“.

Der in vielen Studien vorgenommene Vergleich zwischen PmM und PoM vernachlässigt jedoch die Heterogenität in der Gruppe der PmM [11]. Deutsche Studien zur Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen unterscheiden in 12 Fällen zwischen verschiedenen Migrantengruppen wie türkeistämmigen Personen oder Aussiedlern und der autochthonen Bevölkerung, in 10 Fällen werden Migranten nach erster/zweiter Migrantengeneration oder ein-/zweiseitigem Migrationshintergrund eingeteilt, während 40 Studien lediglich zwischen Migranten und Nichtmigranten unterscheiden [9]. Zudem wird als problematisch angesehen, dass verschiedene europäische Länder unterschiedliche Kriterien für die Definition des Migrationsstatus wie das Geburtsland oder die Nationalität verwenden [11]. Für Deutschland liegt seit 2006 der vielfach zitierte Mindestindikatorensatz von Schenk et al. vor, in dem Studienteilnehmende nach Geburtsland, Staatsangehörigkeit, Muttersprache und dem Geburtsland ihrer Eltern befragt werden [12]. Dieser kommt jedoch nicht immer zur Anwendung. Zudem ist die Beteiligung von PmM an Gesundheitssurveys niedriger als bei PoM [13].

In den Vorstudien der NAKO Gesundheitsstudie wurden Methoden für die Rekrutierung der beiden größten Migrantengruppen in Deutschland untersucht [14, 15]. Dabei zeigte sich eine deutlich unterdurchschnittliche Teilnahmequote bei türkeistämmigen Personen, während diese bei der Gruppe der Aussiedler vergleichbar mit der deutschen autochthonen Bevölkerung war. Für alle anderen, zahlenmäßig deutlich kleineren Gruppen lagen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Insgesamt musste davon ausgegangen werden, dass der Anteil von teilnehmenden PmM in der NAKO-Studienpopulation unter dem tatsächlichen Anteil in der Bevölkerung liegen würde, wobei über den tatsächlichen Anteil keine A‑priori-Annahmen gemacht wurden. Zu einem geringeren Anteil von PmM an den Teilnehmenden trägt auch die Bedingung hinreichender Deutschkenntnisse für die Teilnahme an der NAKO bei.

Studien zu Migrantengruppen haben in der Epidemiologie eine besondere Bedeutung, da sie u. a. zu einem besseren Verständnis der Ätiologie von Krankheiten beitragen. Des Weiteren erlauben sie Ungleichheiten des Gesundheitsstatus von PmM im Vergleich zu autochthonen Bevölkerungen aufzudecken, die oftmals mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status einhergehen und zu einer schlechteren gesundheitlichen Versorgung führen können. Beispiele hierfür sind Studien über asiatische Migrantinnen und Migranten in den USA oder türkische Migrantinnen und Migranten in Deutschland [16,17,18,19,20].

In diesem Beitrag werden soziodemografische Charakteristika der PmM, die bis zur Halbzeit der NAKO-Basiserhebung an der Datenerhebung teilgenommen haben, im Vergleich zu den teilnehmenden PoM deskriptiv dargestellt. Ziel ist es, mögliche Forschungsfragen aufzuzeigen und dabei die Heterogenität einer häufig als homogen ausgewerteten Gruppe herauszustellen. Als exemplarische Variable, mit der Unterschiede verschiedener PmM-Gruppen in Bezug auf die Gesundheitsversorgung illustriert werden sollen, betrachten wir die Inanspruchnahme der Darmkrebsfrüherkennung (Hämoccult-Test) in den letzten 5 Jahren im Vergleich zu PoM.

Methoden

Datenbasis und Studienpopulation

In der NAKO wurden Personen eingeschlossen, die auf Zufallsstichproben aus den Einwohnermeldeämtern basieren. Voraussetzung für den Einschluss war ein Erstwohnsitz in einer der Studienregionen, der Altersbereich von 20–69 Jahren und eine hinreichende Beherrschung der deutschen Sprache (vgl. [21, 22]). PmM wurden somit mit einem erwarteten Anteil gezogen, der dem tatsächlichen Anteil in dem jeweiligen Studienzentrum für diesen Altersbereich entsprach. Insgesamt wurden zur Basisuntersuchung von März 2014 bis Juli 2019 über 200.000 Personen in 18 Studienzentren untersucht und befragt. Im Jahr 2017 wurde nach den ersten 100.000 Teilnehmenden ein „Data Freeze 100k“ beschlossen, für den eine systematische Qualitätsprüfung und Bereinigung der Daten erfolgte. Dieser Datensatz zur Halbzeit der Basiserhebung (Midterm Baseline Dataset) bildet die Grundlage der folgenden Analysen, wobei Daten von 101.816 Personen zur Verfügung standen.

Definition des Migrationshintergrunds

Die Einteilung der PmM erfolgte anhand der Definition des Statistischen Bundesamtes [1], die wie folgt lautet: „Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt.“ Vom Statistischen Bundesamt werden fünf verschiedene Gruppen von PmM unterschieden:

  1. 1.

    zugewanderte und nichtzugewanderte Ausländer,

  2. 2.

    zugewanderte und nichtzugewanderte Eingebürgerte,

  3. 3.

    (Spät‑)Aussiedler,

  4. 4.

    Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Adoption durch einen deutschen Elternteil erhalten haben,

  5. 5.

    mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Kinder der vier zuvor genannten Gruppen.

Mit den in der NAKO erhobenen Variablen war eine Identifizierung dieser Gruppen nur näherungsweise möglich, da zwar das Geburtsland der Eltern, nicht aber deren Staatsangehörigkeit erfragt wurde. Eine mögliche Adoption (Gruppe 4) wurde ebenfalls nicht abgefragt. Die Gruppen 1–3 und 5 sowie PoM wurden daher anhand der Staatsangehörigkeit, des Geburtslands und ggf. des Einreisejahrs sowie des Geburtslands der Eltern bestimmt (Abb. 1) [23].

Abb. 1
figure 1

Definition des Migrationshintergrunds in der NAKO. (Darstellung in Anlehnung an [23]. BL Weißrussland, CZ Tschechien, D Deutschland, KZ Kasachstan, PL Polen, RU Russland, UKR Ukraine, PmM Personen mit Migrationshintergrund, PoM Personen ohne Migrationshintergrund)

Innerhalb der Gruppe der PoM wurden ebenfalls unterschiedliche Untergruppen definiert:

  1. 1.

    Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit und Geburtsland Deutschland sowie beide Eltern in Deutschland geboren,

  2. 2.

    Personen, die als deutsche Staatsangehörige im Ausland geboren wurden,

  3. 3.

    Vertriebene nach dem 2. Weltkrieg,

  4. 4.

    Nachkommen von Vertriebenen.

Zudem musste mit unvollständigen Informationen umgegangen werden und es wurde eine weitere Gruppe gebildet, in der mindestens ein Elternteil unbekannt ist, während der Teilnehmende die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und selbst in Deutschland geboren ist. Diese Teilnehmenden wurden als PoM definiert. Datensätze von Teilnehmenden, denen aufgrund fehlender Werte durch den in Abb. 1 dargestellten Algorithmus kein Migrationsstatus zugewiesen werden konnte (n = 76), wurden durch zwei der Autoren (CW und HB) einzeln betrachtet. Bei Übereinstimmung der zugewiesenen Kategorie wurde der Migrationsstatus entsprechend festgelegt, bei 25 Personen blieb der fehlende Wert bestehen.

Zudem wurden PmM nach Herkunftsregion/Herkunftsland klassifiziert. Zwei gesondert ausgewiesene Gruppen nach der Herkunft sind die türkeistämmigen Personen, bei denen die Person selbst oder mindestens ein Elternteil in der Türkei geboren wurde, und die Aussiedler.

Statistische Analyse

Es wurde eine deskriptive Auswertung der Studienpopulation hinsichtlich des Migrationsstatus für ausgewählte Variablen (Alter, Geschlecht, Bildung, Zeit seit Einreise) durchgeführt. Zudem wurde der Migrationshintergrund stratifiziert nach den 18 Studienzentren ausgewertet und auf einer Deutschlandkarte dargestellt (Abb. 2). Die Anzahl der Teilnehmenden aus den einzelnen Herkunftsländern wurde auf einer Weltkarte abgebildet (Abb. 3).

Abb. 2
figure 2

Anteil Migrationshintergrund in den 18 Studienzentren der NAKO zur Halbzeit der Basiserhebung

Abb. 3
figure 3

Anzahl der Personen mit Migrationshintergrund nach Herkunftsland zur Halbzeit der NAKO-Basiserhebung

Eine Analyse, ob sich PmM hinsichtlich ihres Inanspruchnahmeverhaltens des Hämoccult-Tests zur Darmkrebsfrüherkennung von PoM unterscheiden, wurde mittels dichotomer logistischer Regression für dieses Outcome durchgeführt (die Ausprägungen Teilnahme „Ja, mehrfach“ und „Ja, einmal“ für die Teilnahme an der Untersuchung des Stuhls auf okkultes Blut (Hämoccult) in den vergangenen fünf Jahren wurden zusammengefasst zu „Ja“ versus Ausprägung Teilnahme „nein“). Diese Auswertung ist auf die Studienpopulation ab 50 Jahren beschränkt, da diese Früherkennungsmaßnahme für Personen ab 50 Jahren von den gesetzlichen Krankenkassen angeboten wird. Der Migrationsstatus wurde auf drei unterschiedliche Weisen modelliert: Modell 1: als nominale Variable mit den zwei Ausprägungen Migrationshintergrund Ja/Nein, Modell 2: als nominale Variable mit 4 Kategorien (PoM, türkeistämmig, Aussiedler, sonstige PmM), Modell 3: als nominale Variable mit 15 Kategorien (PoM, 14 Herkunftsregionen/-länder der PmM, Definition nach [24]). In die Modelle eingeschlossen wurden die Variablen Geschlecht, Alter in Altersgruppen (50–59, 60+), das Studienzentrum und die Bildungsjahre (Schule/Studium und Berufsausbildung) als kategorielle Variable (bis zu 10 Jahre, 11–13 Jahre, 14–17 Jahre, 18+ Jahre). Die Auswertung erfolgte als Complete-Case-Analyse.

Alle Analysen wurden mit SAS-Software (Version 9.4; SAS Institute, Cary, North Carolina, USA) durchgeführt. Die Erstellung der Karten erfolgte mit Easymap (Version 11.0; Lutum+Tappert, Bonn, Deutschland).

Ergebnisse

Deskription der PmM

Im Midterm Baseline Dataset der NAKO haben 16.293 (16,0 %) Personen einen Migrationshintergrund (Tab. 1). Die Geschlechterverteilung ist bei PmM und PoM ähnlich (53,5 % bzw. 53,9 % Frauen bei PoM und PmM). Unter den Aussiedlern ist der Anteil der Frauen höher als bei PoM (62,0 %), bei den türkeistämmigen Personen niedriger (46,0 %). Bei der Altersverteilung zeigt sich, dass PmM (Median 52 Jahre) jünger sind als PoM (Median 54 Jahre). Türkeistämmige Personen (Median 46 Jahre) und Aussiedler (Median 50 Jahre) sind im Mittel noch einmal jünger. Eine detaillierte Verteilung auf die Altersgruppen findet sich in Tab. 1. Die Einreise liegt bei den im Ausland geborenen PmM mehrheitlich mehr als 21 Jahre zurück (46,0 % aller PmM), 30,6 % der PmM sind in Deutschland geboren. Die Einreise bei türkeistämmigen Personen liegt im Mittel noch länger zurück (64,7 % seit mindestens 21 Jahren in Deutschland lebend), während Aussiedler im Mittel noch nicht so lange in Deutschland leben (mit 47,6 % ist ein großer Anteil vor 11–20 Jahren eingereist).

Tab. 1 Ausgewählte Charakteristika der NAKO-Teilnehmenden zur Halbzeit der Basiserhebung nach Migrationshintergrunda

Bei den Bildungsjahren liegt der Anteil der PoM mit maximal 10 Bildungsjahren (niedrigste Kategorie) bei 1,9 %, bei den PmM bei 6,5 %. In den mittleren beiden Bildungskategorien ist der Anteil der PoM höher, während in der Kategorie „mindestens 18 Bildungsjahre“ der Anteil bei PmM mit 22,7 % größer ist als bei PoM mit 20,5 %. Ein Vergleich der Bildungszeit von türkeistämmigen Personen mit PoM zeigt deutliche Unterschiede, hier liegt der Anteil der türkeistämmigen Personen mit maximal 10 Bildungsjahren bei einem Fünftel (19,8 %) und damit um den Faktor 10 höher als bei PoM, bei türkeistämmigen Frauen liegt der Anteil sogar bei 23,7 %. Insgesamt ist die durchschnittliche Bildungszeit von türkeistämmigen Personen damit niedriger als bei PoM. Die Aussiedler hingegen weisen ähnliche Bildungszeiten wie PoM auf. Während in den mittleren beiden Bildungskategorien die Anteile bei den Aussiedlern und PoM sehr ähnlich sind, haben Aussiedler jedoch häufiger maximal 10 Bildungsjahre (5,2 % vs. 1,9 %) und seltener mindestens 18 Bildungsjahre (18,2 % vs. 20,5 %).

Für die Teilnahme an der Früherkennungsuntersuchung für Darmkrebs gilt, dass bei PoM mehr als die Hälfte (54,4 %) der befragten Teilnehmenden ab 50 Jahren diese wahrgenommen hat. PmM nahmen seltener daran teil (44,1 %). Bei den Aussiedlern (32,4 %) und türkeistämmigen Personen (27,0 %) sind die Teilnahmeraten noch niedriger, wobei hier der Anteil an fehlenden Werten mit 33,0 % (Aussiedler) und 41,8 % (türkeistämmige Personen) deutlich höher ist als bei PoM (10,2 %).

Die Aufteilung der PmM nach Herkunftsregionen demonstriert, dass der größte Anteil der PmM in Deutschland geboren ist (31,6 %), gefolgt von Osteuropa (27,3 %), Westasien (8,4 %) und Südeuropa (7,7 %). In der Demografie zeigen sich Unterschiede zwischen den Herkunftsregionen (Tab. 2). Der Frauenanteil liegt zwischen 25,4 % (Nordafrika) und 77,2 % (Ostasien). Das mediane Alter variiert zwischen 48 Jahren (Subsahara-Afrika und Zentralasien) und 56 Jahren (Westeuropa). In der Altersverteilung ähneln europäische PmM den PoM (medianes Alter 54 Jahre), während Personen aus nichteuropäischen Herkunftsregionen im Mittel jünger sind.

Tab. 2 Demografische Merkmale der Personen mit Migrationshintergrund (PmM), die bis zur Halbzeit an der NAKO-Basiserhebung teilgenommen haben, nach Herkunftsregionen im Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund (PoM)

Hinsichtlich der Bildungsjahre sind die Verteilungen der in Deutschland geborenen PmM (69,0 % mit mehr als 13 Bildungsjahren) und der PoM (69,4 % mit mehr als 13 Bildungsjahren) vergleichbar (Tab. 2). Zwischen den anderen Herkunftsregionen und PoM liegen deutliche Unterschiede vor. In Zentralamerika und der Karibik, Nordamerika und Ostasien geborene PmM haben häufiger lange Bildungszeiten (84,7 %, 83,7 % und 82,9 % mit mehr als 13 Bildungsjahren), während PmM aus Südeuropa, Südostasien und Westasien häufig kürzere Bildungszeiten aufweisen (48,3 %, 48,2 %, 41,5 % mit mehr als 13 Bildungsjahren).

Eine Stratifizierung nach Studienzentren demonstriert die Ungleichverteilung der PmM über das deutsche Bundesgebiet in der NAKO-Stichprobe (Abb. 2). Der Anteil an PmM variiert zwischen 6 % (Neubrandenburg) und 33 % (Düsseldorf). In den ostdeutschen Studienzentren (mit Ausnahme der Studienzentren Berlin-Mitte und Berlin-Süd/Brandenburg) liegt der Anteil der PmM unter dem der westdeutschen Studienzentren. Zudem variiert der Anteil der Herkunftsregionen zwischen den Studienzentren, wobei Osteruropa in allen Studienzentren die am häufigsten vorkommende Herkunftsregion ist. Der Anteil der in Osteuropa geborenen PmM liegt zwischen 32,1 % (Berlin-Mitte) und 63,5 % (Neubrandenburg). Bei anderen Herkunftsregionen sind die relativen Unterschiede noch ausgeprägter, z. B. liegt der Anteil der in Südasien Geborenen zwischen 0,8 % (Halle) und 9,7 % (Hamburg).

Insgesamt kommen die ersten 101.816 Teilnehmenden der NAKO aus 153 Ländern. Die Aufteilung der PmM auf die jeweiligen Geburtsländer ist in Abb. 3 in der Übersicht dargestellt (Länderliste im Online-Zusatzmaterial Tab. Z1). PmM aus allen Kontinenten und den 15 United-Nations-(UN-)Regionen haben an der NAKO teilgenommen. Die häufigsten Geburtsländer innerhalb der einzelnen Regionen sind Polen (n = 1817; Osteuropa), Türkei (n = 1005; Westasien), Kasachstan (n = 714; Zentralasien), Italien (n = 303; Südeuropa), Österreich (n = 293; Westeuropa), Iran (n = 266; Südasien), Großbritannien (n = 161; Nordeuropa), USA (n = 127; Nordamerika), Vietnam (n = 115; Südostasien), China (n = 93; Ostasien), Ghana (n = 81; Subsahara-Afrika), Brasilien (n = 77; Südamerika), Marokko (n = 68; Nordafrika), Mexiko (n = 29; Lateinamerika und Karibik) und Australien (n = 12; Ozeanien; [24]). Weitere häufig vorkommende Geburtsländer sind Russland (n = 1082), Rumänien (n = 595) und die Ukraine (n = 310).

Zusammenhang Migrationsstatus – Früherkennung Darmkrebs (Hämoccult-Test)

Bei PmM ist die aus dem logistischen Regressionsmodell geschätzte Wahrscheinlichkeit, dass sie Untersuchungen zur Darmkrebsvorsorge in Anspruch nehmen, deutlich geringer als bei der autochthonen deutschen Bevölkerung (Modell 1, Odds Ratio (OR) = 0,82, 95 %-Konfidenzintervall (KI): [0,78; 0,87], Abb. 4). Bei einer Aufteilung in Türkeistämmige (Modell 2, OR = 0,67, 95 %-KI: [0,51; 0,86]), Aussiedler (OR = 0,60, 95 %-KI: [0,50; 0,71]) und Personen mit anderem Migrationshintergrund (OR = 0,86, 95 %-KI: [0,81; 0,91]) ergeben sich deutliche Unterschiede zwischen den analysierten Gruppen. Eine weitere Aufgliederung in die Herkunftsländer/-regionen (Modell 3) verdeutlicht, dass in Deutschland geborene PmM sich in ihrem Inanspruchnahmeverhalten des Hämoccult-Tests nicht von PoM unterscheiden (OR = 0,99, 95 %-KI: [0,91; 1,08]). Für die restlichen Herkunftsregionen liegen mit Ausnahme der Region Südostasien/Ozeanien (OR = 1,13, 95 %-KI: [0,70; 1,83]) die Odds Ratios unterhalb von 1. Personen aus Zentralasien haben verglichen mit PoM die niedrigste Wahrscheinlichkeit der Teilnahme am Hämoccult-Test (OR = 0,48, 95 %-KI: [0,37; 0,63]). Aufgrund der niedrigeren Fallzahlen werden bei einer Aufgliederung der PmM in die Herkunftsregionen die Schätzungen unsicherer. Für 7 der 14 Regionen liegt allerdings auch das obere Ende des Konfidenzintervalls unterhalb der 1 (Nordeuropa, Osteuropa, Nordafrika, Westasien, Zentralasien, Südasien, Ostasien). Wie in der Diskussion näher ausgeführt, ist eine Unterschätzung des Effekts bedingt durch unterschiedliche Anteile fehlender Werte wahrscheinlich.

Abb. 4
figure 4

Odds Ratios der Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen für Darmkrebs (Hämoccult-Test). (Unterteilungen nach: Modell 1 (M1): Migrationshintergrund Ja/Nein. Modell 2 (M2): Besondere Gruppen (Türkeistämmige/Aussiedler/anderer Migrationshintergrund). Modell 3 (M3): Geburtsregion/Geburtsland. Vergleichsgruppe: Personen ohne Migrationshintergrund (OR Odds Ratio, LCL Lower Confidence Limit, UCL Upper Confidence Limit). Alle Modelle adjustiert für Alter, Geschlecht, Studienzentrum, Bildung)

Diskussion

Hauptergebnisse

Die deskriptive Analyse von über 100.000 Teilnehmenden der NAKO in Bezug auf deren Migrationshintergrund weist die NAKO als eine Studie mit extrem vielfältigem Teilnehmerspektrum aus. PmM aus allen Kontinenten und insgesamt 153 Ländern sind in der Studie vertreten und 16 % der Teilnehmenden weisen einen Migrationshintergrund auf. Wie Abb. 2 zeigt, gibt es nur wenige Länder der Welt, aus denen kein NAKO-Teilnehmender entstammt. Die Ergebnisse bestätigen damit den Status von Deutschland als Einwanderungsland eindrucksvoll. Die in der Gesamtbevölkerung häufigsten Herkunftsländer Türkei, Russland und Polen sind auch die am häufigsten in der Studie vertretenen. Der Altersdurchschnitt und die Geschlechterverteilung weisen zwischen den betrachteten Gruppen Unterschiede auf und die für einige Gruppen erheblichen deskriptiven Unterschiede zu PoM in Bezug auf die Bildungsjahre bestätigen einerseits bekanntes Wissen, demonstrieren andererseits aber auch die Notwendigkeit der differenzierten Auswertung für entsprechende Vergleiche in zukünftigen Analysen. Der Anteil von 16 % PmM ist niedriger als der Bundesdurchschnitt von 23,6 % [1], aber dabei ist zu berücksichtigen, dass viele Studienzentren in Regionen liegen, in denen der Anteil an PmM niedriger ist als im Bundesdurchschnitt. Es ist auf der Basis unserer Daten nicht möglich, die Responsequote nach Migrantenstatus zu berechnen. Jedoch haben die Pretests der NAKO gezeigt, dass insbesondere bei der größten Migrantengruppe in Deutschland, den türkeistämmigen Personen, eine niedrige Teilnahmequote erwartet werden musste [14, 15]. Hier haben insbesondere die Frauen einen niedrigen Teilnahmeanteil. Ungeachtet der niedrigen Teilnahmequote sind die Türkeistämmigen neben den Aussiedlern die zahlenmäßig größte Gruppe unter den PmM. Unter der realistischen Annahme einer ähnlichen Verteilung in den zweiten 100.000 Personen wird man somit in der NAKO zwei Migrantengruppen mit jeweils über 2000 Personen erwarten können, die eine hochwertige Grundlage für zukünftige spezifische epidemiologische Untersuchungen bieten werden.

Ergebnisse zur Inanspruchnahme des Hämoccult-Tests

Aufgrund der Größe der NAKO sind auch Detailauswertungen in Bezug auf Herkunftsregionen möglich, wie die Analyse der Inanspruchnahme des Hämoccult-Tests verdeutlicht. Hierbei hat sich gezeigt, dass ein einfacher Vergleich zwischen PmM und PoM, der die Heterogenität der PmM vernachlässigt, unzureichend ist. In den Analysen, bei denen die Heterogenität der PmM berücksichtigt wurde (Modell 2 und Modell 3, Abb. 4), sind deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Migrantengruppen zu beobachten. Interessant ist hier, dass PmM, die in Deutschland geboren sind, keine Unterschiede in der Inanspruchnahme des Hämoccult-Tests zeigen, während PmM, die nicht in Deutschland geboren sind, diese Früherkennungsuntersuchung für Darmkrebs weniger nutzten. Diese Unterscheidung zwischen in Deutschland und nicht in Deutschland geborenen PmM sollte bei Auswertungen somit mindestens erfolgen. Je nach Forschungsfrage bietet sich eine Aufteilung der im Ausland geborenen PmM nach relevanten Gruppen (wie in Modell 2), Herkunftsregionen/Herkunftsländern (wie in Modell 3) oder Länge des Aufenthalts in Deutschland an. Für Letzteres wäre eine Aufteilung in PmM der ersten und zweiten Generation denkbar oder eine feingliedrigere Aufteilung nach Jahren seit Einreise oder dem Alter bei Einreise.

Die Analyse des Zeitraums seit Einreise bei PmM, die nicht in Deutschland geboren wurden, zeigt, dass der überwiegende Anteil der teilnehmenden PmM bereits seit über 10 Jahren, die meisten sogar seit über 20 Jahren in Deutschland leben. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu der Gesamtheit der PmM in Deutschland, in welcher der Anteil dieser Personen niedriger ist [25]. Damit kann eine kurze Zeit seit Einreise nicht als wesentlicher Grund für eine geringere Nutzung von Vorsorgeuntersuchungen angesehen werden.

PmM – und hier besonders ausgeprägt: Aussiedler und türkeistämmige Personen – weisen bei der Variablen zur Teilnahme am Hämoccult-Test einen deutlich höheren Anteil an fehlenden Werten auf als PoM. Wir vermuten, dass der überwiegende Teil dieser Personen, evtl. aus Unkenntnis über den Sachverhalt, keine Antwort gegeben hat und somit die korrekte Antwort ein „Nein“ wäre. In diesem Fall wären die hier berechneten Effektschätzer, die auf einer Complete-Case-Analyse basieren, eine Unterschätzung des wahren Effekts. Der Unterschied in der Inanspruchnahme dieser Vorsorgeuntersuchung wäre demnach noch höher. Eine detaillierte Untersuchung, bei der auch andere Früherkennungsmaßnahmen analysiert werden und bei der die Zeit seit Einreise berücksichtigt ist, wird in späteren Publikationen erfolgen.

Vergleich mit Ergebnissen anderer Studien

Die Mehrheit deutscher Studien zur Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen unterscheidet lediglich zwischen PoM und PmM ohne die Heterogenität der PmM zu berücksichtigen [9]. Beispiele für Studien, die unterschiedliche Migrantengruppen mit den PoM vergleichen, sind folgende: Aparicio et al. (2005) vergleichen Aussiedler mit Nichtaussiedlern und finden ebenfalls eine deutlich geringere Wahrnehmung von Krebsvorsorgeuntersuchungen bei den Aussiedlern [26]. Studien zur gesundheitlichen Versorgung der türkeistämmigen Personen sind zahlreicher [27,28,29,30,31]. Im Gegensatz zu einer niedrigeren Inanspruchnahme des Hämoccult-Tests in unseren Analysen fanden Berens et al. (2014) höhere Teilnahmeraten am Brustkrebsscreening und Zollmann et al. (2016) eine höhere Inanspruchnahme von psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahmen unter türkeistämmigen Personen im Vergleich zur autochthonen Bevölkerung [27, 31]. Neben der Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen bieten sich in der NAKO vielfältige Möglichkeiten, die Morbidität und Mortalität der PmM zu untersuchen. Wie in der Übersichtsarbeit von Arnold et al. (2010) für das Krebsrisiko und Moore et al. (2019) für die mentale Gesundheit dargestellt, lassen sich auch in der NAKO Krankheitshäufigkeiten nach Herkunftsregionen aufschlüsseln [32, 33]. Der Anteil von 16,0 % PmM in der NAKO ist vergleichbar mit dem Anteil in der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1 des Robert Koch-Instituts) (RKI) (ungewichtet 14,2 %), wobei für die NAKO noch keine statistischen Korrekturen vorgenommen wurden [13].

Limitationen und Stärken

Entsprechend der in dieser Arbeit angewandten Definition des Statistischen Bundesamtes [1] wurden die Informationen über das Geburtsland, die Staatsangehörigkeit und das Einreisejahr des Teilnehmenden sowie das Geburtsland der Eltern verwendet. Informationen über die Staatsangehörigkeit der Eltern standen nicht zur Verfügung. Aufgrund des Zweiten Weltkriegs und der damit verbundenen Vertreibungen ergaben sich deshalb Herausforderungen bei der Zuordnung zu den einzelnen Personengruppen, besonders bei der Gruppe der Nachkommen von Vertriebenen, die als PoM definiert wurden. Diese Gruppe ist sehr groß (n = 17.684), da viele Eltern der NAKO-Teilnehmenden in den Ländern Polen, Russland oder Tschechien geboren wurden. Hier kann nicht ausgeschlossen werden, dass es zu Fehlklassifikationen kam. Weitere mögliche Fehlklassifikationen können durch fehlende Werte in einzelnen Variablen entstanden sein, die die Unterscheidung zwischen PmM und PoM erschwert haben. Die Datenvollständigkeit war insgesamt jedoch sehr hoch (beim Geburtsland z. B. lagen nur bei 21 von 101.816 Personen keine Informationen vor), sodass dieses Problem als nicht gravierend angesehen wird. Zu den Stärken der NAKO bezüglich der Analysen nach Migrationshintergrund zählen zweifellos die Größe der Studie und die detaillierte Erfassung von Variablen zur Beschreibung des Migrationshintergrundes der Teilnehmenden. Damit bieten sich bisher nicht vorhandene Möglichkeiten, differenzierte epidemiologische Auswertungen in Bezug auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in Deutschland vorzunehmen und so vorhandene Erkenntnislücken in deskriptiver und ätiologischer Hinsicht wie auch in Bezug auf Versorgungsaspekte zu schließen.

Schlussfolgerung

Die PmM sind eine sehr große, heterogene Teilkohorte der NAKO, die verschiedene homogene Teilgruppen enthält. Mit diesen Teilgruppen sind spezifische Untersuchungen möglich. Sie erlauben zukünftig den Vergleich verschiedener Bevölkerungsgruppen sowohl hinsichtlich der Verteilung von Risikofaktoren als auch der Variablen zur gesundheitlichen Versorgung. Dies gilt insbesondere im Ausblick auf die Gesamtkohorte, bei der über 30.000 PmM erwartet werden können. Die bisherigen Ergebnisse haben gezeigt, dass von einem deutlichen Unterschied im Gesundheitsverhalten zwischen einzelnen Migrantengruppen im Vergleich zur autochthonen deutschen Bevölkerung auszugehen ist. Beispielsweise könnten spezifische Angebote zur Nutzung von Vorsorgeuntersuchungen auf der Basis unserer Ergebnisse gerechtfertigt werden.

Die Heterogenität der PmM verdeutlicht die Notwendigkeit, Untergruppen von Migranten separat zu untersuchen. Die Einteilung von PmM nach Herkunftsregionen kann dabei in einigen Fällen sinnvoll sein. Unsere Ergebnisse haben gezeigt, dass die Fallzahlen auch für separate Migrantengruppen innerhalb der NAKO hinreichend groß sind, sodass detaillierte Analysen mit direktem Bezug auf den Migrationsstatus möglich und sinnvoll erscheinen. Dies ist angesichts einer bisher fehlenden umfänglichen Migrantenkohorte in Deutschland ein entscheidender Fortschritt, der einen Beitrag leisten kann zur Hauptthematik der NAKO – der Erforschung von chronischen Erkrankungen und deren Ursachen.