Muskelrelaxanzien wurden in den 1940er-Jahren von Griffith und Johnson in die klinische Anästhesie eingeführt [1]. Dies trug in der Folge maßgeblich zur Entwicklung der modernen Chirurgie bei; der Fortschritt in vielen chirurgischen Fachgebieten ist unmittelbar mit ihrer Anwendung verbunden. Stellvertretend werden an dieser Stelle die Kardio- und Thoraxchirurgie, Abdominalchirurgie sowie die Chirurgie bei Neugeborenen erwähnt. Die anfängliche Euphorie verflog jedoch nach einer Veröffentlichung von Beecher und Todd im Jahr 1954 sehr schnell [2]. Verglichen mit der damals üblichen Äthermonoanästhesie bzw. Lokalanästhesie konnten die beiden US-Chirurgen ein 35-fach (!) erhöhtes Mortalitätsrisiko nach Anästhesie unter Einschluss von Muskelrelaxanzien nachweisen; mangelnde Kenntnis über neuromuskuläre Restblockade waren häufig die Ursache dafür. Mit der Etablierung der Anästhesiologie als eigenständiges Fach – im Bürgerhospital Saarbrücken wurde 1953 an W. Sauerwein erstmals die Facharztanerkennung in unserem Fachgebiet vergeben (an dieser Stelle möge man dem Autor dieses Beitrags einen gewissen Lokalpatriotismus nachsehen) – und der damit einhergehenden Aus- und Weiterbildung verbesserte sich unser Verständnis der Physiologie und Pharmakologie der neuromuskulären Erregungsübertragung nachhaltig. In der Folge wurden geeignete Geräte zur Überwachung der neuromuskulären Blockade entwickelt und die Antagonisierung als wichtiger Bestandteil des neuromuskulären Managements akzeptiert [3, 4].

Beide, Monitoring und Antagonisierung, sind bis heute Grundpfeiler eines sicheren neuromuskulären Managements und werden dies, wie jüngst von Zoremba et al. an dieser Stelle berichtet, auch zukünftig bleiben [5,6,7]. Neostigmin kann aufgrund seines indirekten Wirkmechanismus erst bei fortgeschrittener Spontanerholung eingesetzt werden. Entsprechend neueren Erkenntnissen sollen alle 4 Reizantworten des Train-of-Four vorhanden sein, bevor mit Neostigmin antagonisiert werden kann [8, 9]. Zwar können seit der Einführung des „Post-tetanic-count“ (PTC)-Modus auch tiefe Blöcke überwacht werden, aufgrund der eingeschränkten Wirksamkeit von Neostigmin konnten sie jedoch lange Zeit nicht antagonisiert werden [10]. Die Voraussetzungen für ein sicheres Management einer Vollrelaxation waren somit nicht gegeben. Dies änderte sich erst vor einigen Jahren mit der Einführung von Sugammadex; erstmals konnten nun auch tiefe neuromuskuläre Blockaden antagonisiert werden [11]. Es ist daher nicht überraschend, dass in der Folge der mögliche klinische Nutzen einer Vollrelaxierung Gegenstand zahlreicher Untersuchungen wurde [12]. Grundlage für die Annahme, dass eine tiefe Blockade möglicherweise die Operationsbedingungen verbessern könnte, ist die Resistenz des Diaphragmas gegenüber der Wirkung von Muskelrelaxanzien; das Diaphragma ist bereits zu einem Zeitpunkt wieder vollständig neuromuskulär erholt, an dem der M. adductor pollicis noch eine ausreichende neuromuskuläre Blockade aufweist [13]. Erst bei Vollrelaxierung entsprechend einer bis 2 Antworten nach Stimulation im PTC-Modus ist mit keinerlei Reaktionen des Diaphragmas zu rechnen [14, 15]. Entsprechend liegt die Vermutung nahe, dass tiefe Blockaden die Operationsbedingungen bei laparoskopischen Eingriffen in der Abdominalchirurgie verbessern bzw. intraoperativ unwillkürliche Bewegungen des Patienten dadurch vermieden werden können.

In dieser Ausgabe von Der Anaesthesist haben Unterbuchner und Blobner sorgfältig Nutzen und Risiken einer solchen Vollrelaxation untersucht. Sie konnten nachweisen, dass die Vollrelaxation u. a. die Operationsbedingungen bei einer ganzen Reihe von laparoskopischen abdominal-chirurgischen Eingriffen verbessert. Die Ergebnisse sind zwar meist (statistisch) eindeutig, ihre klinische Relevanz hingegen ist häufig weniger klar. Dies mag z. T. an methodischen Schwächen vieler untersuchter Arbeiten liegen. So sind adäquate Operationsbedingungen das Ergebnis vieler Faktoren und nicht nur allein vom Ausmaß der neuromuskulären Blockade abhängig. Diese relaxansunabhängigen Faktoren wurden bei nahezu allen untersuchten Arbeiten jedoch nicht ausreichend kontrolliert. Auch gibt es bis jetzt noch keinen Goldstandard zur Beurteilung von Operationsbedingungen. Darüber hinaus ist die Gefahr, die intraoperativ von unwillkürlichen Patientenbewegungen ausgeht, bei ophthalmologischen Eingriffen und in der Neurochirurgie offensichtlich, auch bei roboterassistierten Eingriffen ist die Notwendigkeit, unwillkürliche Patientenbewegung zuverlässig zu vermeiden, allgemein akzeptiert. Darüber hinaus wird diesem Thema jedoch häufig nicht ausreichende Bedeutung beigemessen. Dabei ist die Gefahr durch unwillkürliche Patientenbewegungen bei Eingriffen in der unmittelbaren Nähe von Leber oder Milz bzw. großen Gefäßen offensichtlich und ließe sich durch ausreichend tiefe neuromuskuläre Blockade zuverlässig vermeiden. Es gibt darüber hinaus erste Hinweise darauf, dass die Qualität der Operationsbedingungen einen Einfluss auf postoperative, chirurgische Komplikation haben kann, das anästhesiologische Management also möglicherweise einen unmittelbaren Einfluss auf das postoperative chirurgische Outcome hat [16].

Bei der Vollrelaxation scheint es sich zwar nicht um einen „magic bullet“ zu handeln, aber offensichtlich doch um mehr als nur einen Marketing-Gag. Besonders die beiden letzten Punkte, unwillkürliche intraoperative Patientenbewegungen und der Zusammenhang zwischen Tiefe der Relaxation, Operationsbedingungen und postoperativen chirurgischen Komplikationen, sollten in diesem Zusammenhang zukünftig genauer betrachtet werden.

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T. Fuchs-Buder